Durchgriffshaftung nach französischem Recht (action directe)
Übersicht
- Was ist die „action directe“?
- Wer kann von der haftungsrechtlichen action directe betroffen sein?
- Gilt die action directe auch bei internationalen Geschäften?
- In welchem Verhältnis steht die action directe zur Produkthaftung?
- Abwehrmaßnahmen gegen das Haftungsrisiko nach der neuen Rechtsprechung
1 Was ist die „action directe“?
Im Unterschied zu vielen anderen Rechtsordnungen kennt das französische Recht bei Lieferketten einen Direkt- bzw. Durchgriffsanspruch des Letzterwerbers gegen jeden der vorgelagerten Lieferanten der Lieferkette. Diese von der Rechtsprechung entwickelte action directe ist nach französischem Verständnis vertraglicher Natur und basiert auf der Annahme, dass die Gewährleistungsansprüche des Ersterwerbers mit dem Eigentum an der Sache bei ihrer Weiterveräußerung auf den Nacherwerber übergehen. Der Gewährleistungsanspruch des Erstkäufers wandert mit der Ware bis hin zum Endverbraucher. Der Direktanspruch kann sich grundsätzlich auch gegen einen ausländischen Hersteller oder Importeur der mangelhaften Ware richten.
Durchgriffsansprüche gibt es auch außerhalb des Kaufrechts, und kann sich dann z. B. auf Zahlungs- oder andere Leistungsansprüche beziehen: So kann etwa ein Subunternehmer unter bestimmten Umständen Zahlungsansprüche gegen den Bauherrn geltend machen, obwohl sein Vertragspartner nur der Hauptunternehmer ist. Auch im Transport- und Versicherungsrecht gibt es direkte Leistungsansprüche.
Für Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen nach Frankreich kann die action directe deshalb häufig relevant werden, wie das folgende Beispiel zeigt:
Ein deutsches Unternehmen (A) stellt Kühlaggregate für die Verwendung in Produktionsanlagen für Tiefkühlkost her. Das Unternehmen verkauft ein solches Aggregat an seine französische Tochtergesellschaft (B), die für A den Vertrieb in Frankreich organisiert. Die Tochtergesellschaft wiederum verkauft das Aggregat an ein französisches Unternehmen (C), das für einen Hersteller von Tiefkühlkost (D) eine Produktionsanlage in Frankreich baut.
A --------------- B --------------- C --------------- D
Aufgrund eines Herstellungsfehlers an dem Kühlaggregat fällt das Gerät vier Jahre nach Einbau in die Anlage aus. Es muss ein neues Gerät angeschafft und eingebaut werden, wofür bei D Kosten in Höhe von 30.000,– € entstehen. Außerdem steht die Fabrik für zwei Wochen still, so dass D in dieser Zeit nicht produzieren kann und ein Teil der bereits hergestellten Produkte wegen mangelnder Kühlung verdirbt. Hierdurch entsteht D ein Schaden von weiteren 50.000,– €. D verklagt daraufhin nicht nur seinen Vertragspartner C, sondern darüber hinaus A und B als Hersteller bzw. Zwischenhändler des Kühlaggregats auf Schadensersatz in Höhe von 80.000,– €.
2 Wer kann von der haftungsrechtlichen action directe betroffen sein?
Die action directe ist bei Ketten von Kaufverträgen anwendbar, kommt aber auch dann zum Tragen, wenn zum Beispiel bei einem Werkliefervertrag das vom Werkunternehmer beschaffte Material fehlerhaft war: In diesem Fall kann der Besteller, der letztendlich das Eigentum an dem Werk erwirbt, nicht nur gegen den Werkunternehmer, sondern auch gegen dessen Lieferanten vorgehen.
Der Vertragstyp ist also nicht entscheidend. Es kommt vielmehr darauf an, dass eine ununterbrochene Lieferkette vorliegt. Die entsprechenden Mangelbeseitigungs- und Schadensersatzansprüche gehen mit dem Eigentum an der Ware bzw. dem Werk auf den jeweiligen Erwerber über. Dieser kann unmittelbar diejenigen Rechte ausüben, die auch seinem Lieferanten zustehen.
Durch die action directe werden dem Letzterwerber zum einen ein oder mehrere zusätzliche (und normalerweise solvente) Schuldner angeboten, an die er sich halten kann. Zum anderen sorgt die Regelung dafür, dass der eigentliche Verursacher des Mangels direkt haftbar gemacht werden kann; dadurch können lange Prozessketten für die jeweiligen Rückgriffsansprüche der einzelnen Mitglieder der Produktions- oder Lieferkette (mit der Gefahr unterschiedlicher Entscheidungen) vermieden und alle Tatsachen- und Rechtsfragen in einem einzigen Verfahren abgehandelt werden.
3 Gilt die action directe auch bei internationalen Geschäften?
Auch in grenzüberschreitenden Lieferketten gibt es Direktansprüche des Endabnehmers gegen die vorgelagerten Verkäufer der Lieferkette einschließlich des Herstellers. Die Frage, welchem Recht diese Direktansprüche (action directe) gegen ausländische Hersteller oder Lieferanten unterliegen, ist durch zwei wichtige Urteile der französischen Cour de Cassation (Az. 23-13.687 und 23-20.341, beide vom 28. Mai 2025) neu beantwortet worden.
Nach diesen Urteilen handelt es sich bei den Direktansprüche für die Frage des anwendbaren Rechts nicht um vertragliche, sondern um deliktische Ansprüche. Damit unterliegen sie grundsätzlich dem Recht des Schadensortes. In aller Regel wird also französisches Recht zur Anwendung kommen, auch wenn im Ursprungsgeschäft ein anderes Recht vereinbart wurde. Nach den Urteilen kann der direkt in Anspruch genommene Hersteller dem Endabnehmer die im ursprünglichen Kaufvertrag enthaltenen Rechtswahl- und Gerichtsstandklauseln nicht mehr entgegenhalten.
Was bedeutet das für Sie als Hersteller oder Exporteur?
Diese Urteile sorgen für eine erhebliche Verschärfung des Haftungsrisikos in grenzüberschreitenden Lieferbeziehungen. Französische Endabnehmer können gegen den Hersteller / Zwischenhändler in der Regel Direktansprüche nach dem französischen Deliktsrecht vor französischen Gerichten geltend machen, wenn der Schaden in Frankreich eingetreten ist.
Das Haftungsrisiko für ausländische Hersteller steigt nicht nur, weil die Ersatzansprüche nach französischem Deliktsrecht deutlich weiter sind als nach deutschem Recht, sondern auch, weil deliktische Ansprüche nach französischem Recht erst fünf Jahre ab Kenntnis von dem Schaden / Mangel verjähren – also oft noch Jahre nach der Lieferung geltend gemacht werden können.
Einschränkung
Unklar ist momentan noch, wie die französischen Instanzgerichte mit dieser neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung umgehen werden. Es bleibt derzeit eine gewisse Unsicherheit, ob und wie schnell sich diese neue Linie tatsächlich durchsetzt, und ob Gerichte in der Praxis in jedem Fall tatsächlich das Deliktsrecht anwenden, oder doch wieder vertragliche Grundsätze heranziehen.
4 In welchem Verhältnis steht die action directe zur Produkthaftung?
Unabhängig von der Frage, ob eine action directe besteht, ist bei Lieferungen nach Frankreich zu berücksichtigen, dass die französischen Regelungen zur Produkthaftung eine Haftung für Produktfehler auch im Rahmen von B2B-Verträgen vorsehen. Zwar kann bei Verträgen zwischen Unternehmern grundsätzlich ein Haftungsausschluss vereinbart werden; dieser entfaltet allerdings anders als bei der action directe nur Wirkung zwischen den an dem Vertrag unmittelbar beteiligten Unternehmen. Anders als bei der action directe kann der Hersteller dem Endabnehmer einen mit dem Zwischenhändler vereinbarten Haftungsausschluss nicht entgegenhalten, weil der Endabnehmer nicht den vertraglichen Anspruch des Zwischenhändlers geltend macht, sondern einen eigenen gesetzlichen Anspruch aus den Vorschriften über die Produkthaftung gegen den Hersteller hat.
Für Folgeschäden (also an anderen als der verkauften Sache oder an Leib und Leben), die durch mangelhafte Produkte entstehen, haften damit auch ausländische Hersteller (und Zwischenhändler, die allerdings ihrerseits Regress beim Hersteller nehmen können) vollumfänglich, und zwar bis zum Ablauf von 10 Jahren nach Inverkehrbringen des Produkts, bei Verschulden sogar darüber hinaus. Damit gibt die Produkthaftung auch dem gewerblichen Endkunden bei Mangelfolgeschäden eine Alternative zur action directe an die Hand.
In dem oben genannten Fallbeispiel könnte der deutsche Hersteller A also von D aus Produkthaftung für den Schaden in Höhe von 50.000,- € für die verdorbene Tiefkühlkost in Anspruch genommen werden. Den Ersatz der Kosten für die Beseitigung des Mangels kann D auf der Grundlage der Produkthaftung dagegen nicht von A verlangen.
Das Risiko, aus den Vorschriften der Produkthaftung in Anspruch genommen zu werden, lässt sich auch für das Frankreichgeschäft durch geeignete Versicherungen minimieren.
5 Abwehrmaßnahmen gegen das Haftungsrisiko nach der neuen Rechtsprechung
Angesichts der neuen französischen Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass sich mit Anpassungen des Erstkaufvertrages die action directe nicht mehr ausschließen lässt.
Dennoch lassen sich Risiken begrenzen:
- Haftpflichtversicherungsschutz prüfen und anpassen: Bestehende Haftpflicht- und Produkthaftpflichtversicherungen müssen gezielt überprüft werden, ob sie auch deliktische Direktansprüche französischer Abnehmer decken.
- Risikomanagement stärken: Qualitätssicherung, Dokumentation und Rückverfolgbarkeit sollten verbessert werden, um im Streitfall die Einhaltung aller technischen Anforderungen nachweisen zu können.
- Schadensmanagement vorbereiten: Frühzeitiges Erkennen und zügige Bearbeitung von Mängelrügen und eine aktive Teilnahme an französischen selbständigen Beweisverfahren (expertise judiciaire) können die Haftungsrisiken reduzieren.
- Vertragsgestaltung bleibt sinnvoll: Klare Spezifikationen, Dokumentationspflichten und abgestimmte Regressmechanismen können Folgeschäden in der eigenen Lieferkette begrenzen – auch wenn sie vor Ansprüchen des französischen Endkunden nicht schützen.
- Rechtsprechung beobachten und rechtzeitig beraten lassen: Die weitere Entwicklung sollte stets verfolgt und bei Problemfällen frühzeitig Expertenrat eingeholt werden.
Fazit und Praxistipp
Die Risiken für Hersteller steigen, klassische Vertragsklauseln bieten keinen Schutz mehr vor Direktansprüchen aus Frankreich. Es kommt daher auf ausreichenden Versicherungsschutz, gute Organisation, Transparenz und schnelle Reaktion an. Regelmäßige juristische Überprüfung und ein intelligentes Risikomanagement sind angesichts der neuen Unsicherheit unerlässlich.
Für die rechtliche Bewertung im Einzelfall bleibt eine individuelle Prüfung essenziell. Unsere deutsch-französische Kanzlei unterstützt Sie gerne bei Abwehr und Prävention von Direktansprüchen französischer Endkunden.
30.07.2025